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Peggy Katelhön
Università degli Studi di Milano
„Also diese ...Doppelgesichtigkeit ist immer noch da...“: Individuelle Erinnerungsräume in sprachbiographischen Interviews zur Wende 1989
Seitdem der deutschen Wiedervereinigung sind mehr als dreißig Jahre vergangen, und es wurden unzählige Publikationen zum Thema der deutschen Sprache in der DDR publiziert (vgl. u.a. Katelhön 2009, 2011, 2014). Viele sprachwissenschaftlichen Untersuchungen konnten jedoch lange Zeit nicht wertungsneutral durchgeführt werden, da Einschätzungen, Schlussfolgerungen und Ausblicke je nach Herkunft der Wissenschaftler:innen und der aktuellen politischen Lage formuliert wurden. Hinzu kommt, dass sich durch die rasche Wiedervereinigung auch der Sprach-(gebrauchs-)wandel in einem bis dato nie dokumentierten Tempo vollziehen musste. Die Vernichtung sprachlicher Zeugnisse der DDR als auch die bekannte Diglossie zwischen öffentlichem und privatem Sprachgebrauch in der DDR stellen bis heute ein ernst zu nehmendes Problem für sprachhistorische Dokumentationen dar, da sprachliche Zeugnisse aus dem privaten Bereich kaum vorliegen bzw. selten systematisch erfasst wurden. Umso begrüßenswerter waren die einzelnen Initiativen einiger Linguist:innen, die in der Umbruchsphase versuchten, sprachliche Befindlichkeiten durch sprachbiographische Interviews zu attestieren. Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, diese sprachlichen Erinnerungen, wie sie in sprachbiographischen Interviews von Fix/Barth (2010) und Dittmar/Paul (2019) zur Sprache in der DDR und in der Wende erfasst wurden, mit sprachhistorischen und diskurslinguistischen Methoden zu untersuchen, um die individuellen Spracherinnerungen zu erfassen und zu systematisieren, denn „Es ist das subjektive Erleben von individuellen und gesellschaftlichen Konstellationen von Spracherwerb, Sprachverlust und Sprachgebrauch in bestimmten historischen Momenten, wofür Sprachbiographien eine zusätzliche Informationsquelle darstellen (Thüne 2021: 16) . (Sprach-)biographische Erzählungen sind als stets unvollständig, ko-konstruiert und veränderlich in der Zeit zu betrachten: Biographische Narrative liefern Wörter und nicht Fakten – diese hörbaren oder sichtbaren Worte sind, im Gegensatz zu nicht direkt zugänglichen Fakten, Ausdruck mehrsprachiger Subjekte, ihres Blicks auf die Welt und ihrer diversen Erfahrungen (Purkarthofer 2022: 559). Auch die Interviews von Sprecher:innen aus der DDR sollen hinsichtlich der plurilingualen Identität ihrer Sprecher:innen erfasst und beschrieben werden, um mit sprachhistorischen diskurslinguistischen Methoden das Spannungsverhältnis zwischen kommunikativem individuellem und kulturellem öffentlichem Gedächtnis (Spinner 2016: 17) zur Geschichte der DDR nachzuzeichnen und zu begründen. *** More than thirty years have passed since German reunification, and countless publications have been published on the topic of the German language in the GDR (cf. among others Katelhön 2009, 2011, 2014). For a long time, however, many linguistic studies could not be conducted in a value-neutral manner, as assessments, conclusions and outlooks were formulated depending on the origins of the researchers and the current political situation. In addition, rapid reunification meant that language (usage) change had to take place at a pace never before documented. The destruction of linguistic evidence from the GDR, as well as the well-known diglossia between public and private language use in the GDR, still pose a serious problem for linguistic-historical documentation today, since linguistic evidence from the private sphere is hardly available or has rarely been systematically recorded. This makes the individual initiatives of some linguists who attempted to attest to linguistic sensitivities through language biographical interviews during the transition phase all the more welcome. The aim of this paper is to examine these linguistic memories, as recorded in language biographical interviews by Fix/Barth (2010) and Dittmar/Paul (2019) on language in the GDR and the Wende, using language-historical and discourse-linguistic methods, in order to record and systematize individual language memories, because "it is the subjective experience of individual and social constellations of language acquisition, language loss, and language use in specific historical moments, for which language biographies represent an additional source of information (Thüne 2021: 16) . Linguistic biographical narratives are to be regarded as always incomplete, co-constructed and changeable over time: Biographical narratives provide words and not facts - these audible or visible words are, in contrast to facts that are not directly accessible, the expression of multilingual subjects, their view of the world and their diverse experiences (Purkarthofer 2022: 559). The interviews of speakers from the GDR will also be studied and described with regard to the plurilingual identity of their speakers, in order to trace and justify the tension between communicative individual and cultural public memory (Spinner 2016: 17) about the history of the GDR using linguistic-historical discourse-linguistic methods.